Etwas schwindsüchtig, geistvoll und manchmal dem Wahnsinn nahe – klassische Attribute der Boheme. Nicht ganz unschuldig an der Misere soll deren Signature Drink gewesen sein, der die Genießer grüne Feen hat sehen lassen: Absinth. Lebensmittelmagazin.de machte sich auf die Jagd, nicht in Paris, aber in Prag.
Bevor er sich im Streit mit Paul Gauguin sein Ohr abschnitt, soll Vincent Van Gogh bereits sehr viel Absinth getrunken haben. Ob der folgenschwere geistige Ausfall auf die halluzinogene Wirkung des Thujons zurückzuführen ist oder auf die 60 bis 70 Prozent Alkoholgehalt bleibt wahrscheinlich müßig zu mutmaßen.
Das im 19. und Anfang des 20 Jahrhunderts weit verbreitete Syndrom „Absinthismus”, was sich vermutlich nur unwesentlich vom Alkoholismus unterscheidet, wurde mit einer Reihe von Symptomen in Verbindung gebracht, darunter neurologische Symptome wie Krampfanfälle, Zittern und neurologische Schädigungen. Hinzu kamen psychische Symptome: Halluzinationen, Paranoia, psychotische Zustände und Schlaflosigkeit, so wie Magen-Darm-Probleme.
Altes Heilmittel
Dabei diente Wermutkraut, die Grundlage für Absinth, schon bei den alten Ägyptern um 1550 vor Christus als Medikament. Der Papyrus Ebers, ein frühes ägyptisches medizinisches Manuskript, erwähnt die Verwendung von Wermut als Heilmittel gegen Magen-Darm-Beschwerden durch parasitäre Darmwürmer und zur Appetitanregung. Theophrastus und Hippokrates beschrieben, wie die alten Griechen bereits Extrakt und Tinkturen aus den Wermutblättern gewannen, die nicht nur als Medikament, sondern auch zu kultischen Zwecken dienten. Er war der Jagdgöttin Artemis geweiht, der botanische Name lautet dementsprechend auch Artemisia absinthium. Das Wort Absinth leitet sich vom griechischen Wort Apsinthion, Wermut, ab.

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Im Mittelalter beschrieb Hildegard von Bingen Wermut vor allem als Mittel für äußere Anwendungen. Das Kraut fand außerdem seinen Einsatz gegen Mäusefraß bei Büchern und Mottenbefall im Kleiderschrank sowie zur spirituellen Bekämpfung von Hexen und Dämonen.
Der Absinth als Spirituose „Élixier d’absinthe“ wurde in der Region Val-de-Travers im Fürstentum Neuenburg 1769 erstmals in einer Zeitungsannonce erwähnt. Mutmaßlich stammte die Rezeptur vom französischen Arzt Pierre Ordinaire. Wichtig für die Entwicklung war die in Couvet ansässige Familie Henriod, die im Nachhinein maßgeblich für den etablierten Geschmack verantwortlich ist. Der französische Unternehmer Henri-Louis Pernod kaufte die Rezepte und gründete 1805 eine auf Absinth spezialisierte Destillerie in Pontarlier. Traditionell enthält Absinth Wermut, Anis und Fenchel, wobei Wermut den charakteristischen bitteren Geschmack und die grüne Farbe verleiht. Zusätzlich können auch andere Kräuter wie Ysop, Zitronenmelisse, Engelwurz, Koriander und Kalmus verwendet werden.
Feenzauber
Ab den 1830er Jahren gehörte Absinth zur täglichen Ration der französischen Soldaten in Algerien, offiziell zur Malariaprophylaxe und bei Magenverstimmungen durch verunreinigtes Wasser. Wieder in Frankreich zurück, hielten sie die Absinth-Sitte trotzdem bei. Dessen Popularität wurde durch wiederholte Reblaus-bedingte Weinlese-Ausfälle ab Mitte des 19. Jahrhunderts zusätzlich unterstützt. Die sogenannte grüne Stunde „Heure Verte“, etablierte sich unter der Boheme zum kollektiven Absinth trinken, etwa gegen 17 Uhr. Der eine oder andere Kreative erhoffte sich Inspiration durch die „grüne Fee”, jenen angeblich durch Absinth hervorgerufenen besonderen Rausch.
Daraus entwickelte sich eine ganze Absinthkultur mit dem Ziel, das gehaltvolle Getränk in aller Ruhe und unendlich viel Zeit zu genießen. Tropfen für Tropfen eiskalten Wassers aus sogenannten Absinthfontänen, Wasserspendern mit Tropfhähnen, rinnen über Zuckerstückchen auf filigran perforierte Absinthlöffel hinein ins Glas mit dem bitteren Schnaps. Der vormals grünliche Absinth trübte sich aufgrund des Wassers zur milchigen Louche.
Diese Boheme, der Sammelbegriff für jene Künstler wie Gauguin und van Gogh, nannte sich so aufgrund ihres unkonventionellen Lebensstils, der mit den Roma gleichgesetzt wurde, deren Heimat man nach Böhmen verortete.
La Boheme
Das damalige Königreich, wie auch besonders dessen Hauptstadt Prag, stand in regem Austausch mit den Hauptstädten und Metropolen Europas. Hier baute sich eine ganz eigene Absinth-Tradition auf, basierend auf den bereits vorher üblichen Kräuterbittern, die bereits Wermutkraut enthielten. Böhmischer Absinth unterscheidet sich geschmacklich durch einen niedrigeren Anisanteil, wodurch er kräuteriger schmeckt. Im Café Slavia, ein Theatercafé in der Nachbarschaft des tschechischen Nationaltheaters und Dreh- und Angelpunkt der Prager Künstlerszene, hängt seit 1901 das Gemälde „der Absinthtrinker” vom tschechischen Maler Viktor Oliva, inklusive grüner Fee.

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Die böhmische Methode, also einen Zuckerwürfel mit Absinth zu trinken und diesen auf dem Löffel anzuzünden, mag zwar für Freunde der effektvollen Darreichung ein hübscher Anblick sein, hat aber mit Tradition nichts zu tun.

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Was Böhmen, der heutigen tschechischen Republik, noch in die Karten spielte: Absinth war dort nie wirklich richtig verboten. Denn der Niedergang und das Verbot von Absinth lag nicht nur am übermäßigen Konsum, sondern auch an der erfolgreichen Lobbyarbeit der westlichen Weinbauern, die den Kräuterschnaps zur gefährlichen Droge erklärten. 1905 wurde berichtet, dass Jean Lanfray, ein Schweizer Bauer, seine Familie ermordet und einen Selbstmordversuch unternommen hatte, nachdem er Absinth getrunken hatte. Dabei wurde ignoriert, dass der Mann Alkoholiker war und vor dem Genuss von zwei Gläsern Absinth beträchtliche Mengen Wein und Brandy konsumiert hatte. Noch im selben Jahr kam das Verbot in Belgien. 1910 folgte die Schweiz und 1914 auch Frankreich, sowie viele andere europäische Länder und die Vereinigten Staaten von Amerika. Befeuert wurde dieses Verbot zusätzlich noch durch heimliche Absinth-Schwarzbrenner, die anstelle von Kräutern hochgiftige Substanzen verwendeten, wie Farbstoffe, die bei den Konsumentinnen und Konsumenten zu Leberversagen führten.
Die Wiedergeburt
Im Vereinigten Königreich war Absinth seiner Zeit zwar nicht so populär wie auf dem Kontinent, aber deswegen eben auch nicht verboten. Der britische Importeur BBH Spirits begann in den 1990er Jahren, nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, Absinth aus der Tschechischen Republik zu importieren, was zu einer modernen Renaissance der Absinth-Popularität führte, und das Verbot spätestens 1998 weltweit kippte.
Eben dort in Prags Altstadtgassen mit seinen Jugendstil-Fassaden lebt auch heute noch bisweilen der Geist der Boheme und zwar unweit der Karlsbrücke in der Absintherie-Bar, Geschäft und Museum in einem – und vom Interieur her auch Zeitmaschine. Über 100 Sorten aus Tschechien, Frankreich, der Schweiz und Spanien sind in meterhohen Vitrinen und Schränken an den Wänden untergebracht. Die meisten davon sind handwerklich hergestellt, viele in kleinen Brennereien, manche nach historischen Rezepten. Gerade moderne böhmische Absinthe orientieren sich an den Rezepturen aus der Zeit der Ersten Republik zwischen 1918 bis 1938, mit dem Fokus auf Qualität und Kräuterhandwerk. Die EU-Spirituosenverordnung regelt Zutaten, Herstellung und Kennzeichnung. Was hier als moderner Cocktail oder spannende Zeremonie mit Absinthfontänen und allem Pipapo als Reminiszenz serviert wird, ist eine Spirituose mit Tradition und Legenden und Mythen und kein gefährliches Halluzinogen. Und so ist das Getränk in dem Glas, das der Kellner in der Bar einschenkt, keineswegs von mysteriöser giftgrüner Farbe, sondern schaut eher wie Pfefferminztee aus, vollkommen frei von Feen. Auf Nachfrage beim Kellner weist dieser darauf hin: „Von Absinth mit intensivem Grün würde ich die Finger lassen. Das sind zusätzliche Farbstoffe, die da nicht reingehören.”

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