Tränen lügen nicht: Bayerischer Meerrettich

Meerrettich gehört mit seiner frischen Schärfe zu Räucherfisch und Tafelspitz wie Schlagsahne zum Pflaumenkuchen. Lebensmittelmagazin.de ist nach Franken gefahren, der Heimat des Bayerischen Meerrettichs.

Die Zungenspitze brennt, die Nasenschleimhaut schwillt an, die Augen tränen und zwei Sekunden später ist das Schärfe-Spektakel auch schon wieder vorbei. Verantwortlich dafür ist Allylisothiocyanat, das Senföl des Meerrettichs. „Früher mussten die Mitarbeiter Atemschutzmasken tragen an manchen Maschinen”, sagt Matthias Schamel, Geschäftsführer in sechster Generation des traditionsreichen Unternehmens Schamel Meerrettich im fränkischen Baiersdorf zwischen Nürnberg und Bamberg. Die Region gilt als das älteste Meerrettichanbaugebiet der Welt.

Mit Meerrettich gefüllte Schamel-Gläser in der Fabrik
Schamel ist ein traditionsreiches Unternehmen, das seine Anfänge schon 1846 hatte.
Foto: Schamel

Von Alters her

Dabei war Meerrettich bereits in der Antike bekannt; im alten Ägypten galt er als Aphrodisiakum; in Pompeji ist er auf Wandfresken abgebildet. Außerdem gehört er zu den sieben bitteren Kräutern, die zum jüdischen Pessachfest verzehrt werden, um an den israelitischen Auszug aus Ägypten zu erinnern.

„Eure Nahrungsmittel sollen eure Heilmittel sein und eure Heilmittel sollen eure Nahrungsmittel sein.“

nach Hippokrates

In den mittelalterlichen Gärten galt Meerrettich zunächst als Heilpflanze, wobei Hildegard von Bingen beispielsweise sich in ihren Rezepturen schon auf die Wurzel bezog. Im fränkischen Raum soll allerdings erst Markgraf Johann der Alchemist im 15. Jahrhundert die Wurzel aus Südosteuropa mitgebracht und etabliert haben.

Ohne Fleiß kein Meerrettich

Die geschützte geographische Angabe (g. g. A.) heißt „Bayerischer Meerrettich”, auch wenn das Gemüse vor allem im fränkischen Raum geerntet wird. Die fränkischen Bauern haben auch ganz schön was zu tun, denn Meerrettich ist ein anbau-intensives Gemüse, das sehr viel Handarbeit erfordert. „Während man für Kartoffeln etwa 50 Stunden im Jahr pro Hektar ansetzt, benötigt Meerrettich ungefähr 1.000 Stunden”, erklärt Schamel. Die Wurzeln werden im Frühjahr per Hand gesetzt, mit dem Kopf Richtung Osten. Dann werden sie zweimal im Jahr freigelegt, um die Seitentriebe zu entfernen, damit sich eine schöne Hauptwurzel ausbildet. Zum Schluss wird jede Stange einzeln ausgerissen. Die kleinen Setzlinge, sogenannte Fechser, werden über den Winter eingemietet und im Frühjahr in die sandigen Böden zum Austreiben wieder eingepflanzt. Ab Oktober beginnt die Erntesaison, die über den Winter bis ins Frühjahr anhält. Die meisten Landwirtinnen und Landwirte pflanzen Meerrettich im Nebenerwerb an. Von diesen ca. 1.000 Tonnen der Bayerischen Ernte ist Schamel mit Abstand größter Abnehmer.

frische Meerrettich-Wurzeln
Schamel nutzt für seine Produktion den Bayerischen Meerrettich direkt vor der Haustür.
Foto: Schamel

Das Unternehmen schaut auf eine lange Erfolgsgeschichte zurück. 1846 heiratete die Familie bei einem Meerrettich-Großhändler ein und baute über Generationen hinweg das Unternehmen zum europaweiten Exporteur für Meerrettich aus. Damals wurden die ganzen Wurzeln noch in Holzfässern transportiert. Erst 1914 wurde unter Johann Jakob Schamel das Verfahren entwickelt, den Meerrettich bereits im Werk zu verarbeiten und genussfertig in Gläser abzufüllen, was die tränenreiche Verarbeitung zu Hause ersparen sollte. 2017 hat Matthias Schamel die Leitung zusammen mit Andreas Schöppl übernommen. Im Sinne des Zeitgeistes gibt es mittlerweile neben klassischem Meerrettich auch Zubereitungen wie Sahne-Meerrettich, Gravad Sauce oder Preiselbeer-Meerrettich, die obligatorische Bio-Linie und mit „Superroot” auch eine vegane Alternative zum Sahne-Meerrettich auf Mandelbasis.

Gerade finden im Betrieb Umbaumaßnahmen statt, eine sogenannte energetische Sanierung. Die Erdwärmepumpe sorgt für die optimale Klimatisierung der Verwaltung, wärmt und kühlt je nach Bedarf. Die Photovoltaikanlage wird ebenfalls erweitert – langfristige Investitionen in allgemein harten Zeiten.

Aus der Erde ins Glas

Von tränentreibenden Senfölschwaden ist beim Eintritt in die Produktionsanlage nichts zu spüren. Erst über dem Waschbecken, wo die Wurzeln in reichlich Wasser gewaschen und von ihrer äußeren Schicht befreit werden, steigen einem über der schäumenden Gischt die Tränen in die Augen – dafür werden gleichzeitig auch die Atemwege befreit. „Früher saßen hier an die 20 Leute, die mit Küchenmessern jede Wurzel einzeln von Hand schälen mussten. Mein Großvater ging herum und überprüfte, dass nicht zu viel weggeschnitten wird. Das war eine mühselige, nasskalte Angelegenheit“, berichtet Matthias Schamel.

Zwar sind nach wie vor üppige Hauptwurzeln erwünscht, doch inzwischen ist es technisch auch möglich, kleinere unregelmäßige Wurzeln zu verarbeiten. Um eine gleichbleibende Qualität und einen gleichbleibenden Schärfegrad zu erhalten, werden von jeder Charge Proben entnommen und im Labor überprüft.

Die gereinigten Wurzeln werden maschinell gewürfelt und photosensorisch kontrolliert. Zwischendurch hört man ein sonores Pfeifen, ein Luftstrahl, der etwa Meerrettichwürfel mit zu großen braunen Stellen vom Band aussortiert. In Cuttern, ähnlich wie beim Metzger, wird der Meerrettich nach der jeweiligen Rezeptur verarbeitet, ob als Sahnemeerrettich oder etwa purer Gemüsemeerrettich, der beispielsweise in der Gastronomie vermehrt Verwendung findet. Für die Großkunden wird der Meerrettich dann in 1.000-Liter-Tanks gefüllt, aber der Großteil landet in Schamel-Gläsern. Weil das Wurzelgemüse zu keinem Zeitpunkt erhitzt wird, muss es für die Haltbarkeit geschwefelt werden. „Auch, wenn Meerrettich im Supermarkt im normalen Regal und nicht in der Kühlung zu finden ist, empfehlen wir, ihn kühl zu lagern, um bestmöglich das Aroma zu erhalten”, empfiehlt Matthias Schamel. Weil das Unternehmen auftragsbezogen produzieren kann, besteht nicht die Notwendigkeit, den fertig verarbeiteten Meerrettich lange zu lagern.

2007 erkämpfte Schamel-Senior, der Vater des heutigen Geschäftsführers, über einen jahrelangen Prozess hinweg die geschützte geographische Angabe für bayerischen Meerrettich. „Das ist ein guter Schutz, so gewährleisten wir auch weiterhin den Anbau und die Produktion hier vor Ort. Für diese Qualität gibt es eben auch keinen Ersatz”, sagt Schamel. Und Schutz kann der Meerrettich-Anbau wohl benötigen. Neben dem allgemeinen Fachkräftemangel, auch bei Erntehelfern, sehen sich die Bauern mit den wachsenden Wetter-Extremitäten des Klimawandels gefährdet. Während in den bewässerungsintensiven Sommerperioden jetzt oftmals Dürre herrscht, bedrohen im Herbst beispielsweise Starkregen und Sturm die Ernte.

Rettich ist nicht gleich Rettich

Man findet auf den Gläsern das Siegel der geschützten geografischen Angabe neben dem Firmenlogo, der meerrettichreibenden „Kren-Marie“. „Die Kren-Marie heißt aber noch nicht lange so. Die Frau meines Urgroßvaters hieß Marie, dementsprechend haben wir die Dame auf dem Logo jetzt so getauft”, erzählt der Geschäftsführer. Kren ist wiederum das Synonym für Meerrettich, das vor allem im ehemaligen Habsburgerreich verwendet wurde. Es leitet sich ab vom slawischen ‘Krenas’, was weinen bedeutet. Der Meerrettich (Armoracia rusticana), hat botanisch übrigens nichts mit Rettich und Radieschen (Raphanus) gemein, außer dass beide Pflanzenarten zur Familie der Kreuzblütler (Brassiceae) zählen. Der Name beider Pflanzen leitet sich vom lateinischen Radix (Wurzel) ab. Und anders als beim Wort Meerschweinchen, wo sich das „Meer“ darauf bezieht, das es aus Mittel- und Südamerika (übers Meer) kommt, stammt das „Meer“ vom Meerrettich von „maior“, also mehr/größer ab. Das fränkische Baiersdorf ist in Tradition und Geschichte unmittelbar mit dem Meerrettich verbunden. So gibt es beispielsweise jährlich den Krenmarkt, ein beliebtes Volksfest. Von den sechs Betrieben, die es noch bis in die 60er-Jahre hinein in Baiersdorf gab, ist allerdings heute nur noch Schamel übriggeblieben. Dafür halten sie die Tradition hoch, engagieren sich im lokalen Sport und sozialen Einrichtungen und nicht zuletzt bei der Wahl der Meerrettichkönigin. Aktuell ist das ihre Majestät Theresa, die als Markenbotschafterin den Meerrettich repräsentiert.

Auf den Deckeln der Meerrettichgläser ist das Firmenlogo, die sogenannte „Kren-Marie“ zu sehen.
Foto: Schamel

Kreativer Scharfmacher

Auch wenn der Meerrettich nach wie vor seinen festen Platz in der Küche und etwa auf den Räucherlachs-Bagels und -Brötchen dieser Welt hat, so richtig instagrammable ist er noch nicht. Diese Position wird viel mehr von seinem japanischen Cousin, dem Wasabi, besetzt, der omnipräsenten Einsatz in neuen Kreationen hat. Was als Wasabi beispielsweise in Sushi-Boxen mitgegeben wird, ist häufig aber nichts Anderes als grün gefärbter Meerrettich. Denn echter japanischer Wasabi ist selten und sehr teuer. Dabei ist es auch so, dass trotz der ähnlichen frischen Schärfe beider, der Geschmack vom Meerrettich weitaus komplexer ist als vom feinen Wasabi. „Meerrettich muss sich als regionales Superfood hinter Wasabi nicht verstecken und hat seinen Platz in der modernen und bewussten Esskultur“, meint Matthias Schamel. Dementsprechend findet man auf der Internetseite von Schamel die eine oder andere spannende Rezeptur, zum Beispiel Weißes Schokoladen-Panna-Cotta mit Johannisbeeren und Meerrettich. Die Vorlieben des Geschäftsführers bleiben aber klassisch: „Meine Mutter hat in die Mitte der Kartoffelknödel Meerrettich statt Brotwürfel getan, was dem Kloß einen hervorragenden Geschmack verleiht. Außerdem kann ich auch nur das Münchner Schnitzel empfehlen, das nach dem Plattieren mit Meerrettich eingestrichen wird.”

Drei Gläser Weißes Schokoladen-Panna-Cotta mit Johannisbeeren und Meerrettich und daneben ein Glas Sahne Meerrettich Preiselbeere von Schamel
Wer Meerrettich mal in anderer Zubereitung probieren möchte, findet auf der Homepage von Schamel kreative Rezepte, z. B. weißes Schokoladen-Panna-Cotta mit Johannisbeeren und Meerrettich.
Foto: Schamel

Zum Abendessen geht es ins Nürnberger Traditionsrestaurant Bratwurstglöcklein. Hier findet man als Beilage neben Sauerkraut und Kartoffelsalat zu den Nürnberger Würstchen Meerrettich. Offenbarung wäre dafür ein sehr großes Wort, aber tatsächlich passt der Meerrettich hervorragend zu den Würstchen. Während Senf mit seinen Umami-Noten bisweilen mit der Bratwurstwürze konkurriert, unterstützt die frische Meerrettich-Schärfe den würzigen Geschmack. Das bestätigt auch der Kellner: „Natürlich stellen wir für die Touristen Senf zu den Nürnberger Rostbratwürstchen hin, aber traditionell gehört der Meerrettich dazu.”

Artikel-Teaserbild (oben): photocrew – stock.adobe.com

About Johannes

Johannes schreibt seit 2019 als Reporter für lebensmittelmagazin.de. Seine Themenschwerpunkte sind Lebensmittelhandwerk, Lebensmittelindustrie und Gastronomie und hier besonders Nachhaltigkeit und Trends. Zudem ist er für die Berichte vor Ort zuständig.

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